Initiative Freies Wort

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April 2013 – Stadt Salzburg

75 Jahre Salzburger Bücherverbrennung

„Dort, wo man Bücher verbrennt...“

Zum 30. April 1938: Salzburger Bücherverbrennung auf dem Residenzplatz

Almansor:
Wir hörten daß der furchtbare Ximenes,
Inmitten auf dem Markte, zu Granada –
Mir starrt die Zung im Munde – den Koran
In eines Scheiterhaufens Flamme warf!
Hassan:
Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher
Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.
(Heinrich Heine: Almansor. Eine Tragödie. Berlin 1823 – Erstveröffentlichung 1821)

Salzburg, die „schöne Stadt“ („alte Plätze sonnig schweigen …“ Georg Trakl), war auch ein bedrängender Ort. Am 30. April 1938 inszenierte der Lehrer und Schriftsteller Karl Springenschmid auf dem Salzburger Residenzplatz eine Bücherverbrennung – die einzige in Österreich nach nationalsozialistischem Muster. Schon das Fanal am 10. Mai 1933 in Deutschland zielte auf Auslöschung der österreichischen Literatur von Weltruf, darunter Sigmund Freud, Franz Werfel und Stefan Zweig. Was von ihr in der österreichischen Diktatur von 1933 bis 1938 übrig blieb, wurde im nationalsozialistischen Salzburg, inmitten der Altstadt, angesichts der erzbischöflichen Residenz, des Domes und des Mozartdenkmals, verbrannt – Vorbote von dem, was noch kommen sollte …

1987 erinnerte erstmals eine Initiative der Salzburger Autorengruppe an dieses ungeheuerliche Vorkommnis. Erich Fried hatte damals bei strömendem Regen in seiner aufrüttelnden Rede gesagt: „Und bloß die Bücherverbrennung zu verdammen und nicht zu kämpfen, das genügt nicht einmal, um neue Bücherverbrennungen zu verhindern, und das genügt nicht, um die Verbrennung der ganzen Welt zu verhindern. Das wollte ich sagen.“

Zwanzig lange Jahre danach gab es nun am 30. April 2007 erneut eine Gedenkveranstaltung, die an diesen Vandalenakt der Nazis erinnerte. Nun haben sich Vertreter des Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg (Gerhard Langer, Karl Müller, Armin Eidherr), der Israelitischen Kultusgemeinde (Hofrat Marko Feingold), des Vereins Literaturhaus Salzburg (Tomas Friedmann), des Friedensbüros Salzburg (Christine Czuma), der Katholischen Aktion (Generalsekretär Hannes Schneilinger), der Plattform www.erinnern.at (Sigrid Langer) und der Internationalen Stefan Zweig Gesellschaft (Hildemar Holl) mit dem Ziel getroffen, die Erinnerung an den 30. April 1938 wach zu halten. Dank der großzügigen Unterstützung der Salzburger Sparkasse und der Stadt Salzburg konnte eine mehrteilige Veranstaltung vorbereitet werden.

Dabei war die Nazi-Bücherverbrennung des Jahres 1938 in den drei Programmteilen dieses Tages wiederholt Anlass, auf Grundsätzliches und Wesentliches hinzuweisen – die Vernichtung des Buches als ein Zeichen der Auslöschung von Geist, Freiheit und Emanzipation und als ein aktuelles und virulentes Problem der Gegenwart. Denn wie ein roter Flammenschein zieht sich das lodernde Rot durch die Geschichte und die Kulturen oder, wie sich Erich Kästner schon anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung des Jahres 1933 bei der PEN-Tagung in Hamburg am 10. Mai 1958 ausdrückte: „Das blutige Rot der Scheiterhaufen ist immergrün.“ Diesem Gedanken waren denn auch die Beiträge von Wissenschaftlern und SchriftstellerInnen an diesem 30. April 2007 gewidmet.

Am Vormittag stellten Gert Kerschbaumer und Karl Müller in einem zweistündigen Vortrag an der Universität die Salzburger Bücherverbrennung in die historischen Kontexte und analysierten Vorgeschichten, Ausprägungen und die bedrängenden Folgen dieser „Aktion wider den undeutschen Geist“, wie sich die Nazis ausdrückten.

Diese begann „schlagartig“ in den Umbruchstagen und erstreckte sich auf alle mit der Herstellung und Verbreitung von Literatur befassten Instanzen der vor 1934, also während der Ersten Republik, relativ autonomen Kulturgesellschaft. Die „Aktion wider den undeutschen Geist“, die „Säuberungs- und Entrümpelungsaktion“ auf der Grundlage der „zum Schutz von Volk und Staat“ verordneten „schwarzen Listen“ mit „verbrennungswürdigen“ Büchern, gipfelte in der Bücherverbrennung, die effektvoll inszeniert wurde. Vorbild für Salzburg waren die Bücherverbrennungen im Deutschen Reich vom Mai 1933, die damals in vielen deutschen Universitätsstädten durchgeführt worden waren. Salzburg hat den zweifelhaften Ruhm, der einzige Ort der damaligen „Ostmark“ zu sein, wo eine derartige Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten stattfand. In Salzburg musste im Jahre 1938 das Konzept der Verbrennung von Büchern an die spezifischen politisch-historischen Umstände angepasst und verändert werden. Denn die deutsche Hauptstoßrichtung des Jahres 1933 – die prinzipiell antisemitische Auslöschung der Moderne, in der Mehrzahl „pazifistische, defaitistische und bolschewistische“ AutorInnen, wie sich die Nazis ausdrückten –, wäre 1938 nach vier Jahren Austrofaschismus zum Teil ins Leere gegangen, hatten doch die Kulturfunktionäre des österreichischen Ständestaates schon zwischen 1934 und 1938 die pazifistische, marxistische und zum Teil kritisch-bürgerliche Literatur von sich aus bekämpft. In der Beseitigung der „kulturbolschewistischen Pseudokunstproduktion“ waren sich Austrofaschismus und deutscher Faschismus einig. Der NS-„Kampf gegen Schmutz und Schund“ hatte 1933 sogar überschwängliche Begeisterung in österreichischen vaterländisch-katholischen Kreisen erweckt. Die Moderne verlor unter dem Austrofaschismus die wenigen Einflussbereiche. Die „völkische Literatur“ eroberte die freien Positionen, doch erst mit dem „Anschluss“ wird die völkischnationale und nationalsozialistische Literatur zur dominierenden Macht in allen Literaturinstanzen. Das öffentliche Signal zur „Ausmerzung“ gaben der Landesschulrat für Salzburg und die Gauwaltung des NS-Lehrerbundes sechs Wochen nach dem Staatsstreich 1938. Schüler- und Lehrerbüchereien seien einer genauen „Revision“ zu unterziehen. Die beim Salzburger Autodafé inszenierte anti-klerikale und anti-austrofaschistische Stoßrichtung verstellt aber den Blick auf den gesamten Umfang und die Hauptstoßrichtung der Kulturbarbarei gegen die Moderne. Alle Bücher jüdischer Autoren sowie Bücher, die aus der Dollfuß-Schuschnigg-Zeit stammten und rein klerikalen Zwecken (politischer Katholizismus) dienten, seien im Hof des Mirabellschlosses (Magistrat und Deutsches Volksbildungswerk) abzugeben.

Die NS- Regie inszenierte die Bücherverbrennung als Bruch, als symbolische Vernichtung der „alten Zeit“, für die Unterdrückung, Zerrissenheit, Not und Elend stehen, und als symbolischen Aufbruch in eine „neue Zeit“, für die Wiedervereinigung, Einigkeit, Gleichheit, Freiheit und Modernität stehen. Durch die Akzentuierung der Stoßrichtung gegen die „Systemzeit“, gegen ein reaktionäres System, und durch die Demonstration des „stürmischen Elans der Jugend“ gab sich der Nationalsozialismus modern, jugendbewegt und aufmüpfig gegen die Herrschenden, die allerdings bereits abgetreten waren. Der Nationalsozialismus verstellte damit den Blick auf seinen wahren Charakter. Er vollzog nämlich einen Bruch in Bereichen, in denen es Emanzipation, Freiheit, Fortschritt und Utopie gab, in den Bereichen Literatur, Wissenschaft und Presse.

Am Nachmittag fand auf dem Residenzplatz eine etwa einstündige Veranstaltung statt, die reges Publikumsinteresse erfuhr und von Kompositionen von Igor Strawinsky und Erwin Schulhoff begleitet wurde, gespielt vom Bläser-Ensemble Triophonie und Mitgliedern der Klezmer-Connection.

Gert Kerschbaumer eröffnete mit einigen prinzipiellen Gedanken, die auch auf aktuelle kulturpolitische Fragen anspielten:
„Wie nachhaltig der Zivilisationsbruch in Salzburg wirkt, zeigt sich darin, dass es hier bislang misslungen ist, ein Haus für Stefan Zweig zu errichten. Lebendig wie eh und je ist jedoch sein literarischer Traum von der Einheit der Welt, des Orients und Okzidents – sein Kosmos, aus dem ich abschließend die Frage zitiere: ‚ … wie kann man atmen ohne die Weltluft, die aus den Büchern strömt?’“

Robert Schindel hatte sich bereit erklärt, eine Rede zu halten, in der er unter anderem die Brücke zwischen der Bücherverbrennung von 1938 und modernen Angriffen auf Künstler und Aufführungen schlug:
„Hier stehen wir und gedenken der Bücherverbrennung 38, indes ununterbrochen in vielen Teilen der Welt Menschen verbrannt werden. Achten wir womöglich darauf, dass jene Symbolakte uns nicht und nie den Blick verstellen für die aktuellen Barbareien, die unter unseren Augen geschehen. Dass aber Salzburg heute zum zweiten Mal sich an diese Schande vom 30. April erinnert, sei ihm hoch angerechtet. Womöglich lässt die Stadt und auch gewisse kirchliche Kreise die Künstler hier arbeiten und man setzt den Index ein für alle Mal auf den Index. Denn der Meinungsstreit ist das eine, Verbote etwas ganz anderes. Nebenbei: Es liegt im Wesen jeglicher Orthodoxie, gleichgültig welcher Religionen, Ideologien, eine Welt der eigenen Dogmen zu errichten, in denen nur diese Platz haben. Deshalb mögen die Religionen bei sich selbst anfangen, in die Toleranzen zu gehen und die weltlichen Ideologien mögen folgen. Dann werden sie keine Bücherverbrennungen mehr veranstalten in Zukunft und auch nicht unter solchen zu leiden haben.“

Anschließend lasen Salzburger SchriftstellerInnen Texte zum Thema von Stefan Zweig, Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger, Soma Morgenstern, Carl Zuckmayer, Berthold Viertel, Ilse Aichinger und Ernst Kästner.

Christine Haidegger (unten rechts) las aus einem Brief von Stefan Zweig an den belgischen Maler Frans Masereel vom 15. April 1933. Der Brief wurde also einige Wochen vor dem 10. Mai 1933 geschrieben, als im Deutschen Reich in über 40 Städten Bücher verbrannt wurden. Es heißt dort u.a. “Was sonst geschieht, spottet jeder Beschreibung, jede Art von Recht, Freizügigkeit ist in Deutschland aufgehoben, und es wird nur ganz kurze Zeit dauern, und wir haben in Österreich das gleiche Schicksal.“

Ludwig Laher (unten links) trug aus einem Brief von Kurt Tucholsky an seinen Freund Walter Hasenclever vom 17. Mai 1933 vor: „… Da kommen sie nun aus allen Löchern gekrochen, die kleinen Provinznutten der Literatur, nun endlich, endlich ist die jüdische Konkurrenz weg - jetzt aber! […] Lebensgeschichten der neuen Heroen. Und dann: Alpenrausch und Edelweiß. Mattengrün und Ackerfurche. Schollenkranz und Maienblut — also Sie machen sich keinen Begriff, Niveau null.“

Vladimir Vertlib (unten links) las Teile aus der bedrängenden Hinrichtungspassage aus Lion Feuchtwangers historischem Roman „Jüd Süß“ (1925), der sich mit dem Schicksal von Josef Süß Oppenheimer, dem Bankier und Finanzberater von Herzog Karl Alexander von Württemberg, auseinandersetzt. Josef Süß Oppenheimer war am 4. Februar 1738 hingerichtet worden.

Armin Eidherr (oben rechts) trug eine Passage aus Soma Morgensterns Erinnerungen „Joseph Roths Flucht und Ende“ vor, erschienen 1994, geschrieben in Erinnerung an die Jahre 1933 und 1934. Soma Morgensterns Romantrilogie „Funken im Abgrund“ – „Der Sohn des verlorenen Sohnes“, „Idyll im Exil“ und „Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes“ – konnte zur Gänze erst in den 1990er Jahren in ihrer deutschen Originalsprache publiziert werden, war also dem deutschsprachigen Publikum nicht zugänglich. Schon zwischen 1946 und 1950 war die Trilogie in einer amerikanischen Übersetzung publiziert worden. Soma Morgenstern, 1890 in Ostgalizien geboren, war eng mit Joseph Roth befreundet: „Du [sagte Joseph Roth zu seinem Freund Soma Morgenstern] mußt trachten, mit dem Buch schnell zu Ende zu kommen. Wir haben unsere Welt verloren. Ich bin in etwas besserer Lage als du, denn meine Bücher haben schon meinen Namen im Ausland bekannt gemacht. Das wird mir nicht viel helfen. Aber wie man in Wien sagt: besser wie gornix. Du, Soma, kommst schon fast zu spät. Wie soll sich einer, der jetzt deutsch schreibt, im Ausland als Flüchtling einen Namen machen?"

Christoph Janacs (unten links) las Passagen aus Carl Zuckmayers Autobiographie „Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft“ (1966). Zuckmayer lebte seit 1934 in Henndorf bei Salzburg und flüchtete nach der Annexion Österreichs im Jahre 1938 aus Österreich. Die folgende Passage bezieht sich auf diese entscheidenden Stunden und stammt aus dem Kapitel „Austreibung“: „Ich reiste allein, mit dem direkten Zug Wien-Zürich. […] Der Salzburger Bahnhof glich einem Heerlager, überall kampierten die Einmarschtruppen, die einen ruhigen, disziplinierten, soldatischen Eindruck machten. […] Der gleiche Mob, den ich von Wien her kannte, belagerte die Bahnhofshalle, sagte „Sssieg-Heil“ oder sang das Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne, in der es wie zum Hohne hieß: „Die Zeit für Freiheit und für Brot bricht an!“ und an die, erst recht wie zum Hohn, das gute alte Deutschlandlied des einstigen 48ers Hoffmann von Fallersleben, nach der Melodie von Haydn, angehängt wurde. […] Der Gedanke, dieses Land zu verlassen, wurde mir immer leichter.“

O. P. Zier (oben rechts) trug das Gedicht „Der nicht mehr Deutsch spricht“ von Berthold Viertel aus dem Gedichtband „Der Lebenslauf“ vor, der im Jahre 1946 im New Yorker Exilverlag „Aurora“ erschienen ist. Dort heißt es u. a.: „Deutsch zu sprechen hast du dir verboten/Wie du sagst: aus Zorn und tiefer Scham./ Doch wie sprichst du nun zu deinen Toten,/Deren keiner mit herüberkam?“

Gudrun Seidenauer (unten links) las Passagen aus Ilse Aichingers „Aufruf zum Misstrauen“, erstmals publiziert in der Zeitschrift „Plan“ im Juli 1946: „Ein Druckfehler? Lassen Ihre Augen schon nach? Nein! Sie haben ganz richtig gelesen — obwohl Sie diese Überschrift unverantwortlich finden, obwohl – – Sie finden keine Worte. […] Aufruf zur Vergiftung also? Aufruf zum Untergang? Beruhigen Sie sich, armer, bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! Weinen Sie nicht! Sie sollen ja nur geimpft werden. Sie sollen ein Serum bekommen, damit Sie das nächste Mal um so widerstandsfähiger sind! […] Trauen wir dem Gott in allen, die uns begegnen, und mißtrauen wir der Schlange in unserem Herzen! Werden wir mißtrauisch gegen uns selbst, um vertrauenswürdiger zu sein!“

Schließlich zitierten Ludwig Laher und Christine Haidegger (oben rechts) aus einer Rede Erich Kästners, die er anlässlich der 25. Wiederkehr des Jahrestages der Bücherverbrennung von 1933 bei der PEN-Tagung in Hamburg am 10. Mai 1958 gehalten hat: „Es gibt Andachtsübungen, und wie es Andachtsübungen gibt, sollte es, nicht weniger ernsthaft und folgenschwer, Gedächtnis-Übungen geben. Meine Damen und Herren, wir sind zu einer Gedächtnis-Übung zusammengekommen. […] eine Gedenkstunde soll eine Gedächtnisübung sein, und noch etwas mehr. […] Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“

Schülerinnen des Bundesgymnasiums Zaunergasse hatten sich in den vergangenen Wochen mit dem Thema Bücherverbrennung befasst und Informationsblätter zu einzelnen Autoren mit Biographie und Textproben gestaltet; sie verteilten die Blätter dem interessierten Publikum auf dem Residenzplatz.

Der Tag in Erinnerung an die Salzburger Bücherverbrennung des Jahres 1938 wurde mit einem Diskussions- und Filmabend im Salzburger Literaturhaus beendet.

Gerhard Langer (links) sprach mit Robert Schindel (rechts) und dem Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinden in Österreich, Mag. Raimund Fastenbauer (Mitte), über die Bedeutung von Bücherverbrennungen für die jüdische Tradition, über neuen und alten Antisemitismus, über „Vergangenheitsbewältigung“ als „Gegenwartsbewältigung“. Im Anschluss wurde der 2001 gedrehte Film „Gebürtig“ nach dem gleichnamigen Roman von Robert Schindel gezeigt.

Gert Kerschbaumer, Gerhard Langer, Karl Müller

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Presse

Podcast

Artarium - Stimmen aus dem Massengrab.

Ein Podcast von Norbert K. Hund zum Thema Bücherverbrennung

Fotos

Texte/Reden

REDE – 30. April 2013, 17.00 Uhr Residenzplatz – gemeinsam mit Albert Lichtblau und Tomas Friedmann, Marko Feingold, Barbara Coudenhove-Kalergi, Felix Mitterer (liest Texte von Stéphane Hessel und Ilse Aichinger)

Musik von Mordechai Gebirtig (neu programmiertes Glockenspiel)

Karl Müller

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute auf den Tag genau sind 75 Jahre ins Land gezogen, seitdem hier zwischen Dom, ehemals fürsterzbischöflicher Residenz und barockem Residenz-Brunnen, in der Kultur- und Festspielstadt Salzburg, ein Scheiterhaufen loderte – keine Hexer oder Hexen wurden verbrannt, sondern Materielles, nein – Archive des Wissens und des menschlichen Geistes - etwa 1.200 Exemplare von Zeitschriften und Büchern von 56 bekannten Autorinnen und Autoren, darunter befand sich Weltliteratur. Ihre Werke wurden in dieser durchgeplanten Aktion vernichtet – unter  Anleitung der NS-Lehrerschaft, vorbereitet und durchgeführt von der organisierten nazistischen Jugend und unter tätiger Mithilfe einiger „säuberungswütiger“ Bibliothekare und Buchhändler. „Fort mit dem volksfremden ‚Geistesgut’!“, so tönte es aus dem Mund der Provinz-Bourgeoisie Salzburgs, fort mit den „Produkten“ der „Juden“, dieses „Geschmeißes“, und fort mit der „Schundliteratur“ der Klerikalen – so lautete das sich modern gebende Verbrennungsmotto für die „restlose Vernichtung“. Und die NS-Lehrerschaft „bürgte“ dafür!

Es war der Furor eines intellektuellenfeindlichen und gehässigen Kleinbürgertums, das allen humanistischen und aufklärerischen Werten abhold war. Es war antisemitisch und hatte — abrechnungssüchtig und gewaltbereit — insbesondere die katholische Kirche und die Träger des  verhassten Austrofaschismus im Visier. Fünf Jahre Deutsches Reich seit 1933 waren diesen Provinz-Bürgern Vorbild – sukzessive Entrechtung von Regime-Gegnern, z. B. Entzug von Staatsbürgerschaften, Inhaftierungen in Gefängnissen und KZs, Verfolgungen, Morde – und: an etwa 80 Orten [oft mehrfach an verschiedenen Örtlichkeiten einer Stadt] des Deutschen Reiches Bücherverbrennungen, von Bad Kreuznach und Berlin bis Würzburg – „symbolische Justifizierungen“, wie es hieß. Ein halbes Jahrhundert später: Im Jahre 1987 konnte, auf der Basis von damals neuen Forschungsarbeiten, das jahrzehntelange kollektive Beschweigen dieses beklemmenden Vorkommnisses vom 30. April 1938 zum ersten Mal gebrochen werden. Der Exilschriftsteller Erich Fried sagte damals in seiner Rede hier auf diesem Platz, es genüge nicht, ein solches Fanal bloß zu verdammen oder pflichtgemäße Gedenkkultur zu üben. Es gelte vielmehr, „die Verbrennung der ganzen Welt zu verhindern“.

Erich Fried hatte dabei seine eigene Gegenwart, das Hier und Jetzt im Auge – Analogien, Parallelen – und eine die Menschheit über Jahrtausende hinweg und an unzähligen Beispielen dokumentierte Serie von Vernichtungs-Handlungen. Als 20 Jahre später Robert Schindel – heute vor sechs Jahren – hier an dieser Stelle stand, führte er diesen Gedanken weiter und differenzierte ihn:

„Hier stehen wir und gedenken der Bücherverbrennung 38, indes ununterbrochen in vielen Teilen der Welt Menschen verbrannt werden. Achten wir womöglich darauf, dass jene Symbolakte uns nicht und nie den Blick verstellen für die aktuellen Barbareien, die unter unseren Augen geschehen.“ Und er fügte im Sinne der immer bedrohten Freiheit des Wortes hinzu: „Denn der Meinungsstreit ist das eine, Verbote etwas ganz anderes. […] Es liegt im Wesen jeglicher Orthodoxie, gleichgültig welcher Religionen, Ideologien, eine Welt der eigenen Dogmen zu errichten, in denen nur diese Platz haben.“

Etwas Grundsätzliches und Wesentliches wird sichtbar – die Vernichtung des Buches als ein Zeichen der Vernichtung von Geist, Freiheit und Emanzipation und als ein aktuelles und virulentes Problem der Gegenwart. Denn wie ein roter Flammenschein zieht sich das lodernde Rot durch die Geschichte und die Kulturen oder, wie sich Erich Kästner ausgedrückt hat: „Das blutige Rot der Scheiterhaufen ist immergrün.“

Albert Lichtblau:
Es gibt immer wieder gute Gründe für das Böse!

Die Versprechen klingen ähnlich – sie lauten „Freiheit“, „Säuberung“, „Wahrheit“, „Erlösung“.

Viele erhofften sich damals davon eine Erleichterung nach Jahren der Krisen, Belastungen, Ängste, der Gewalt.

Der „Befreiungsschlag“ begann mit vielen Schlägen gegen die vermeintlichen „Feinde im Inneren“.

Die Salzburger Bücherverbrennung war Teilelement des viel größeren Kontinuums der Gewalt, ein Element der Gewaltspirale, die sich immer tiefer drehte, bis die Gewalt am Ende nicht um Dinge wie Bücher ging, sondern um die „anderen“, die „Ausgegrenzten“, „Missachteten“, „Verachteten“,

… um konkrete Menschen.

Wir leben hier immer noch mit diesem Vernichtungswillen, versuchen ihn zu verstehen, einzuordnen, damit klarzukommen. Angesichts der Vernichtung stehen wir vor den Trümmern einer gemeinsamen Geschichte mit denjenigen, die ermordet wurden und denjenigen, die mordeten.

Bei dem, was hier vor Ort am 30. April 1938 stattfand, ging es also um das Abgrenzen, Ausgrenzen, Drohen, das Einschwören auf die neue Ideologie, den „neuen Führer“, das Heraufbeschwören eines neuen Gemeinschaftsgeistes, der „andere“ und „anderes“ nicht mehr erträgt.
Wir haben es mit einer Ansammlung verpasster Möglichkeiten zu tun.
Die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen, hätte es hier vor Ort gegeben oder an vielen anderen, an denen es bei weitem nicht so gefährlich gewesen wäre, dagegen aufzustehen. Aber die Welt hatte sich an den Irrsinn und die Gewalt der Nazis bereits gewöhnt und wollte
nicht wahrhaben, dass auch sie bald davon erfasst werden würde. Sie war überfordert.

Warum ist es wichtig, dass wir uns mit (dieser) Geschichte befassen?
Eigentlich ist die Antwort einfach: wir sind Geschichte, wir machen Geschichte, wir benötigen Geschichte, um uns im Hier und Jetzt zu orientieren. Deswegen ist es wichtig, dass wir die Vergangenheit mit großer Aufmerksamkeit und wachem Verantwortungsgefühl betrachten.
Der Nationalsozialismus hinterließ mit seiner Zerstörungswut viele Wunden, Wunden, die fortwirken. Es wäre wohltuend, wenn das Reden und das darüber Nachdenken dabei helfen, die Wunden ein wenig zu heilen.

Die Gegenwart benötigt eine reflektierende Erinnerungskultur
Seit den 1990er Jahren wurden in Salzburg viele Gedenkorte im öffentlichen Raum gestaltet – die gute Absicht sei nicht abgesprochen, doch vieles ging schief. Die Tafel zur Erinnerung an die Bücherverbrennung ist ein Beispiel dafür, denn das Mahnmal zur Bücherverbrennung
befindet sich nun im neuen Unipark und nicht dort, wo es hingehört, nämlich hierher. Es steht an, dass wir uns vom verschämten Erinnern verabschieden, es ist an der Zeit, dass wir endlich Verantwortung für die Erinnerungskultur übernehmen. Dafür gibt es bereits
beeindruckende Beispiele wie die „Stolpersteine“.

Karl Müller:
Vier Aspekte seien noch erwähnt:
Erstens: Im Hitler-Deutschland des Jahres 1933, also unmittelbar nach der sog. Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wurde das öffentliche Bücherverbrennen geradezu eine Mode – nicht zuletzt, um das eigene Volk auf die angeblich modernen Werte der Nazis einzuschwören. Die Feuersprüche sprechen Bände. Bis 1938 hatte sich die Herrschaft des Regimes gefestigt. Bücherverbrennen war nicht mehr nötig und opportun – man wollte international anerkannt werden, also nach außen auftrumpfen. Da kamen etwa die Olympischen Spiele 1936 gerade gelegen, um sich versiert und zivilisiert zu geben. Die Salzburger Bücherverbrennung des Jahres 1938, die sich an den reichsdeutschen Vorbildern des Jahres 1933 orientierte, musste den reichsdeutschen Machthabern als Anachronismus erschienen sein. Das hatte man nun wirklich nicht mehr nötig. Die Salzburger Aktion kann so als das Werk eines kleingeistigen und fanatisierten Strebertums der Provinz begriffen werden, das es offensichtlich nötig hatte, das Bild der Kulturstadt Salzburg – gewalttätig – im Sinne der Nazis zu „erneuern“, wie sie sich ausdrückten.

Zweitens: Bis heute gilt die These, diese Vernichtungsaktion hier auf diesem symbolträchtigen Platz sei 1938 die einzige in der damaligen Ostmark gewesen. Dem ist nicht so: Neuere Forschungen zeigen, dass sich jenes provinzielle Strebertum auch anderswo austobte – etwa in Thalgau¹, in Reisach im Gailtal² oder im Mai und November – im Zuge der Pogrom-Nacht –, als Thorarollen gemeinsam mit anderen rituellen Gegenständen entfernt oder vernichtet wurden, z. B. in Linz und Steyr – auf einem Sportplatz. Sollte es ein Zufall sein, dass der, wie die NS-Presse mehrfach berichtete, einzige Redner an jenem 30. April 1938, jener Nazi-Landesrat und Lehrerschaftsführer namens Karl Springenschmid sich wohl selbst und Seinesgleichen porträtierte, als er – in einer ihm wohl unbewussten Projektion – das alte „Spießertum“ anprangerte, das es zu vernichten gelte, um die neue „Freiheit“ zu gewinnen, die allerdings „deutsch“, „rassisch rein“ sein musste. Stefan Zweig hatte schon 1933 gewusst, womit er es zu tun hatte – mit Brutalität, Dummheit, Unterwerfungslust und einer „Haßpsychose“. Zweig schrieb 1933: „Was sonst geschieht, spottet jeder Beschreibung, jede Art von Recht, Freizügigkeit ist in Deutschland aufgehoben, und es wird nur ganz kurze Zeit dauern, und wir haben in Österreich das gleiche Schicksal.“

Drittens: Die kulturgeschichtliche Forschung ist sich einig: So sehr die Bücherverbrennung – wie jene Fanale des Jahres 1933 auf die Auslöschung der österreichischen, insbesondere der jüdischen Literatur von Weltruf, darunter des Werkes etwa von Arthur Schnitzler, Franz Werfel oder Stefan Zweig zielte – das Spezifische aber an der Bücherverbrennung 1938 ist etwas anderes: Man brauchte sich de facto nicht mehr so sehr um die Ausrottung der pazifistischen, linken und kritisch-bürgerlichen Literatur kümmern, denn diese hatten die Kulturfunktionäre des österreichischen Ständestaates zwischen 1934 und 1938 schon zensuriert, wenn auch nicht verbrannt. Karl Springenschmid, der Salzburger „Chefideologe“, konnte sich auf die Auslöschung von Texten „klerikaler Knechtung“, wie er sich ausdrückte, konzentrieren und – in einem Aufwasch die „jüdische Verderbnis“ gleich mit entsorgen.

Und schließlich viertens: Die Bücherverbrennung des Jahres 1938 auf diesem ganz spezifischen barocken Platz hat aber noch eine andere fundamentale Dimension. Die von einem fanatisierten provinziellen Spießertum zu verantwortende Vernichtungs-Performance – also auf platte Emotionalisierung ausgerichtete und auf symbolische Zeichen setzende Politik – hatte nämlich zugleich eine größenwahnsinnige Zielrichtung. Denn die Bücherverbrennung sollte der Event-Auftakt sein, Salzburg – in enger Zusammenarbeit mit dem SS-Ahnenerbe – zum „nationalsozialistischen Missionszentrum“, zum „weltanschaulichen Ausstrahlungszentrum“ der angeblich neuen, modernen Epoche zu machen, wie sich der sogenannte Chefideologe Karl Springenschmid schon im März 1938 ausdrückte. In seiner Denkschrift heißt es: „Alle kulturpolitischen und volkspolitischen Einrichtungen“ seien hier in Salzburg und nicht etwa im „Altreich“ anzusiedeln, um die nazistische „Sendung“ zu erfüllen. Die Bücherverbrennung war gedacht als Leuchtfeuer, das – wie es hieß – „nationalsozialistische Rom“ Wirklichkeit werden und es hell erstrahlen zu lassen.

¹Vgl. Bernhard Iglhauser: Aliquando – 400 Jahre Thalgauer Schulgeschichte 2012,
² Bernhard Gitschtaler: Gailtaler Jugend im Nationalsozialismus. Verein Erinnern-Gailtal. Wien/Dunaj – Hermagor/Šmohor 2012: Hitlerjugend, Bund Deutscher Mädel und der Reichsarbeitsdienst im Gailtal. Eine der besonderen „kulturellen“ Tätigkeiten der HJ im Gailtal war dabei eine Bücherverbrennung, die am 17.5.1938 in Reisach stattfand. (Jamritsch 2012: S. 26) Bücherverbrennungen wurden zumeist von der SA organisiert und öffentlich im Zuge von diversen „Feierlichkeiten“ durchgeführt. Verbrannt wurden dabei die Werke unliebsamer AutorInnen und kritischer oder andersdenkender Menschen. Ob es im Gailtal noch mehrere Bücherverbrennungen gab, ist bisher nicht restlos geklärt. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber recht hoch. Weitere Orte: Bruck an der Leitha (nach Alois Eder), Attnang-Puchheim, Lofer

Albert Lichtblau:
Es ist wichtig, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht alleine der Politik oder der Verwaltung zu überlassen, auch wenn dies notwendig ist. Das hat etwas von „verordnetem“ Gedenken, das niemand etwas angeht. Erinnern und Gedenken macht besonders dann Sinn, wenn es öffentlich und aktiv geschieht und mitten aus der Gesellschaft heraus getragen wird. Deswegen wollten wir abermals hier sein, an dem Ort des Geschehens, um darauf hinzuweisen:

das alles geschah HIER

… und die furchtbaren, mörderischen Geschehnisse nahmen ihren weiteren Verlauf.

Und es geht leider weiter: die Zensur und Dehumanisierung setzten sich fort. Im Februar wurden in Aserbaidschan die Bücher eines Autors (Akram Aylisli) verbrannt, der sich in einem Roman mit dem Konflikt rund um den Berg Karabach befasste und Parallelen zum Völkermord an der armenischen Bevölkerung zog. Sein Leben wurde bedroht. Das alles geschieht JETZT.

Es gibt genug zu tun!

Dass sich so viele unserer Initiative „Freies Wort“ angeschlossen haben, ist erfreulich und macht Mut.

Dafür möchten wir uns bei allen Beteiligten und Ihnen bedanken.

Empfohlene Zitierweise:
Tomas FRIEDMANN, Albert LICHTBLAU, Karl MÜLLER, Erinnerung an die Salzburger Bücherverbrennung 1938 (Rede), Salzburg 2013, online unter: Initiative Freies Wort, https://www.initiative-freies-wort.at/veranstaltungen/veranstaltung-2013/ (Datum des letzten
Zugriffs)

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Karl Müller THALGAUER WINTERSONNENWENDE 1938 – ÜBER DAS VERBRENNEN VON BÜCHERN Rede am 25. Oktober 2013, 20.00 Uhr, VS Thalgau

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
sehr geehrter Herr Bürgermeister,
lieber Bernhard Iglhauser,
sehr geehrte Damen und Herren,

in dem scheinbar sachlichen Erinnerungsbericht eines ehemaligen SS‐Führers und Gemeindesekretärs (aus dem Jahr 2006) über den Thalgauer Bücherverbrennungstag des 21. Dezember 1938 ist noch immer jenes dumpfe Unverständnis, jene angeblich selbstverständliche  Vernichtungshaltung dem Buch, der Schrift, dem Geistigen gegenüber spürbar: „ein paar Buam haben was aufgesagt“, „der Lehrer [...] hat vorher schon Kisten mit Büchern, Hefteln und anderem Zeug [zum Schörghubbühel] hinbringen lassen“, „dann sind’s noch mit der Kirchenfahne [...] gekommen und haben’s auch hineing’schmissen. Uns von der SS hat das Ganze nicht so interessiert.“

Was damals auf Initiative eines NS‐„fanatischen“1, hochgradig antiklerikalen Lehrers auch in Thalgau geschah, ist Teil und, wie wir noch sehen werden, eine den aktuellen politischen Erfordernissen angepasste Variation der seit 1933 im gesamten Deutschen Reich und schließlich im April 1938 auch in Salzburg (Residenzplatz) von den Nationalsozialisten praktizierten Bücherverbrennungs‐Handlungen. Eine Art von Hexenverbrennungen“, eine Art öffentlich zur Schau gestellter Gerichtsurteile – „symbolische Justifizierungen“, wie es in der NS‐Presse hieß.

Der Thalgauer Lehrer und die von ihm eingespannten Gruppierungen vollzogen also in glühendem Provinz‐Eifer bereits Allzubekanntes. Denn sie konnten an sogenannte reichsdeutsche Vorbilder und sogar an ein „ostmärkisches“ Vorbild, die Bücherverbrennung auf dem Residenzplatz ein paar Monate zuvor (30.4.1938), anknüpfen. Alle derartigen Aktionen hatten einen hohen Symbolwert zum "kulturellen“ Auftakt der NS‐Herrschaft der Jahre 1933 und 1938. Sie entlarvten in gebotener Klarheit den faschistischen „deutschen
Geist“, der sich als modern, jung und zukunftsträchtig, rein, edel und staatstragend gab – egal ob die Aktionen 1933 in Berlin, Dresden, Heidelberg, Göttingen, München, auf Helgoland oder in Bad Kreuznach, Worms oder Jena oder eben am 30. April 1938 mitten im Herzen der Stadt Salzburg stattfanden. Freilich, die „ostmärkischen“ Aktionen hatten – angesichts der soeben von den Nationalsozialisten gefeierten Niederlage des Dollfuß‐ und Schuschnigg‐Regimes – eine etwas andere als eine ausschließlich antisemitische oder rein nationalistische Stoßrichtung. Denn das Motto zur „restlosen Vernichtung“, nämlich „Fort mit dem volksfremden ‚Geistesgut’!“, wie es anlässlich der Salzburger Bücherverbrennung aus dem Mund der Provinz‐Bourgeoisie Salzburgs tönte, bedeutete nicht nur fort mit den „Produkten“ der „Juden“, dieses „Geschmeißes“, sondern auch und insbesondere fort mit der „Schundliteratur“ der „Klerikalen“. Und federführend war die NS‐Lehrerschaft unter der Leitung von Karl Springenschmid, der ja auch in Thalgau kein Unbekannter war. Die NS‐Lehrerschaft „bürgte“ sogar dafür, dass dies tatsächlich geschah!2

Thalgau ordnet sich mit seiner Büchervernichtungsaktion zur Wintersonnenwende“ des Jahres 1938 in eine – erst heute erkennbare Reihe – von ähnlichen, strikt kalkulierten Vorkommnissen ein, etwa im Kärntner Gailtal (Reisach), im Peraugymnasium in Villach, in Bruck an der Leitha, Attnang‐Puchheim, in Lofer, in Linz und Steyr. Nicht spontaner Volkszorn oder ‐aufruhr waren die Antriebsfedern, sondern die Verantwortung und Initiative von Nationalsozialisten und ihrer Kader – gewissermaßen Nazi‐Intellektuellen, Professoren, Studenten, Lehrern oder Provinz‐Honoratioren.

Darüber hinaus ist festzuhalten: Die nationalsozialistische Fokussierung auf Buch und Schrift, das Gedächtnis‐Archiv der gesamten Menschheit, ist angesichts der Geistfeindlichkeit und Ausrottungsmentalität der Faschisten gar keine Überraschung und ist spezifischer Teil einer Jahrtausende alten Strategie in fast allen „Hochkulturen“. Die NS‐Aktionen, die seit 1933 liefen, können als die „amtlich verfügte und mit terroristischen Mitteln durchgeführte Entgeistigung und Barbarisierung Deutschlands“3 verstanden werden. Die Thalgauer „Schörghubbühels“ gab und gibt es weltweit. Etwas Grundsätzliches und Wesentliches wird sichtbar – die Vernichtung des Buches als ein Zeichen der Vernichtung von Geist, Freiheit und Emanzipation. Denn wie ein roter Flammenschein zieht sich das lodernde Rot durch die Geschichte und die Kulturen oder, wie sich Erich Kästner ausgedrückt hat: „Das blutige Rot der Scheiterhaufen ist immergrün.“ (vgl. BEILAGE)

Aber schauen wir noch ein wenig genauer hin: „Was die Buam aufg’sagt haben“, waren wohl jene seit 1933, an etwa 80 Büchervernichtungsorten üblich gewordenen, rituell eingesetzten und magisch wirken wollenden „Feuersprüche“. Diese wurden von der Hitlerjugend und ihren „Führern“, jedoch auch von anderen Angehörigen der gesamten sogenannten Volksgemeinschaft (also auch SS‐ und SA‐Männern, Soldaten, Arbeitern, Bauern, Lehrern, Musikern und Angehörigen anderen Berufsgruppen) bei den zahlreichen Entflammungs‐Inszenierungen gesprochen/gerufen/verkündigt und beruhten allesamt auf den alle derartige Aktionen steuernden „Thesen wider den undeutschen Geist“. Diese Thesen waren ihrerseits – in Form von platt pauschalierenden und auf Manipulation ausgerichteten Für und Wider – das Kondensat kruder faschistischer Ideologie, etwa:

Gegen Klassenkampf und Materialismus, für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung [...], gegen Dekadenz und moralischen Verfall, für Zucht und Sitte in Familie und Staat [...], gegen Gesinnungslumperei und politischen Verrat, für Hingabe an Volk und Staat [...], gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele [...], gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten, für Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit [...], gegen volksfremden Journalismus demokratisch‐jüdischer Prägung, für verantwortungsbewußte Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus [...], gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges, für Erziehung des Volkes im Geist der Wehrhaftigkeit [...], gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes [...], gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist [...].4

Solche Sprüche zielten darauf ab, eine angeblich neue und moderne Zeit symbolisch zu entflammen: „Aufbruch“, „neue Freiheit“, „Reinigung und Säuberung“, „Wahrheit“, „Erlösung“, so lauteten die Schlagworte – und im selben Atemzug wurde das im Sinne der Nationalsozialisten als gestrig und „undeutsch“ Deklarierte kontrolliert, zensuriert, zerfetzt,  in die Flammen geworfen. Die zahlreichen Verbrennungs‐ und auch die mittelalterlich anmutenden Schandpfahlaktionen – Bücher und Schriften wurden an öffentlichen Orten an Pfählen aufgespießt (Texte von Stefan Zweig etwa) – waren Teilelemente einer viel größeren Gewaltwirklichkeit (z. B. sukzessive Entrechtung von Regime‐Gegnern, Entzug von Staatsbürgerschaften, Inhaftierungen in Gefängnissen und KZs, Folterungen, Verfolgungen, Vertreibungen), ja eines Kontinuums der Gewalt; sie waren Elemente der Gewaltspirale, die sich schließlich immer tiefer drehte – bis die Gewalt am Ende nicht um Dinge wie Bücher ging, sondern um die „anderen“, um konkrete Menschen. Abgrenzen, Ausgrenzen, Drohen und das Einschwören auf die neue Zeit, den neuen Führer, das Heraufbeschwören eines neuen Gemeinschaftsgeistes, der „andere“ und „anderes“ nicht erträgt, waren bestens kalkulierter Sinn und Zweck solcher Rituale.

Wie sagte der ehemalige SS‐Mann noch? „Bücher, Hefteln und anderes Zeug“, so seine verharmlosende Rede, sei beim „Schörghubbühel“ ins Feuer geworfen worden – also zur nazistischen Feier der „Wintersonnenwende“ als Symbol des angeblichen Aufbruchs in das angeblich rassisch reine, also „arische“ Neue Reich, eben nicht von des jüdischen Gottes Gnaden, sondern von des arischen Heilands Gnaden, also Hitlers, wie die Nationalsozialisten meinten. Immerhin handelte es sich bei diesen „Büchern, Hefteln und anderem Zeug“, wie Bernhard Iglhauer in seiner nicht hoch genug zu schätzenden, fulminanten Recherche zeigen kann, um Teile der Bibliotheks‐ Bestände, die seit den 1880er Jahren von bildungsbegeisterten, verdienstvollen Männern sukzessive aufgebaut worden war.
Kunstbücher, philosophische Bücher, hauptsächlich aber heimatkundliches und religiöses Schrifttum – etwa 800 Bücher – waren u.a. von Dechant Sebastian Russegger, dem Schulleiter Leonhard Müller, dem Fabrikanten Nicolaus Gaertner und dessen Sohn Alfred gesammelt worden.5 Sie machten letztlich die „Thalgauer Schul‐ und Gemeindebibliothek“ bzw. nach 1934, also im Ständestaat, die „Thalgauer Volksbibliothek“ aus. Spätestens ab 1934 wurden aber die österreichischen Bibliotheken – und dies ist sehr wichtig zu wissen, um den anti‐österreichischen und gegen die „Systemregierung“ vor 1938 gerichteten Furor der Nationalsozialisten zu verstehen – umfangreichen vaterländischen Kontroll‐ und Zensurmaßnahmen unterworfen. Diese Zensurmaßnahmen waren sowohl gegen die Linke als auch gegen die NS‐Bewegung gerichtet. Kontrolle und Zensur gehörten also, wenn auch nicht Bücherverbrennungen, bereits vor 1938 zum „Geist“ der Zeit, sie waren geistiges Gift.

Enthielt die Thalgauer „Schul‐ und Gemeindebibliothek“ jüdisches Schrifttum? Wir wissen es nicht, aber es war wohl nur marginal vorhanden. Der NS‐Lehrer und seine meist Jugendlichen Mitagierenden brauchten sich also um die Bücher des „jüdischen  Geschmeißes“ gar nicht zu kümmern, sie konnten, allen humanistischen und aufklärerischen Werten abhold, insbesondere die katholische Kirche und die Träger des verhassten Austrofaschismus ins Visier nehmen: „dann sind’s noch mit der Kirchenfahne [...]  gekommen und haben’s auch hineing’schmissen.“

Lassen Sie mich abschließend noch auf etwas Zentrales hinweisen, was allerdings weit über Thalgau hinausgeht und bisher – für den NS‐Gau Salzburg – noch nicht klar genug gesehen wurde. So sehr die zentrale Salzburger Bücherverbrennung vom 30. April 1938 auf die Auslöschung der österreichischen, insbesondere der jüdischen Literatur von Weltruf, darunter des Werkes etwa von Arthur Schnitzler, Franz Werfel oder Stefan Zweig zielte – das Spezifische daran aber ist etwas anderes: Man brauchte sich de facto nicht mehr so sehr um die Ausrottung der pazifistischen, linken, kritisch‐bürgerlichen und/oder avantgardistischen Literatur kümmern, denn diese hatten die Kulturfunktionäre des österreichischen Ständestaates zwischen 1934 und 1938 schon zensuriert, wenn auch nicht verbrannt. Karl Springenschmid, der Salzburger „Chefideologe“, konnte sich, so wie der Thalgauer Oberlehrer, auf die Auslöschung von Texten „klerikaler Knechtung“ (wie sich Springenschmid ausdrückte), konzentrieren und – in einem Aufwasch die „jüdische Verderbnis“ gleich mit entsorgen. Aber man hatte hierorts noch etwas ganz anderes, etwas Fundamentales, ja etwas Größenwahnsinniges im Visier: Die Salzburger Bücherverbrennung sollte der Event‐Auftakt sein, Salzburg – in enger Zusammenarbeit mit dem SS‐Ahnenerbe
(SS‐Hochschule) – zum „nationalsozialistischen Missionszentrum“, zum „weltanschaulichen Ausstrahlungszentrum“ der neuen Epoche zu machen, wie man in einer Denkschrift Springenschmids vom März 1938 nachlesen kann. In dieser heißt es: „Alle kulturpolitischen und volkspolitischen Einrichtungen“ seien hier in Salzburg und nicht etwa im „Altreich“ anzusiedeln, um die „Sendung“ des Nazi‐Reiches zu erfüllen. Das Feuer der Bücherverbrennung war als Leuchtfeuer gedacht, das Salzburg als „nationalsozialistisches Rom“ Wirklichkeit werden und es in die tausend Jahre hinein hell erstrahlen lassen sollte.

Warum wir heute zusammen gekommen sind? Dass es gilt, der Gemeinde Thalgau zur Eröffnung der neuen Gemeinde‐ und Schulbibliothek, Bernhard Iglhauser für seine immense und qualitätsvolle Arbeit und dem Künstler des ästhetisch so überaus gelungenen und würdigen Mahnmals respektvoll zu gratulieren, das liegt ja auf der Hand. Dies zu sagen ist mir ein Herzensanliegen. Im Innersten aber sollte uns Folgendes verbinden. Erich Kästners Worte, gesprochen anlässlich einer PEN‐Tagung 1958 in Erinnerung an die Bücherverbrennungen des Jahres 1933, lauteten damals – sie sind bildhaft frisch, wie ich meine:

„Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. [...] Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. [...] Das ist die Lehre, das ist das Fazit [ ...] Das ist der Schluß, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluß meiner Rede.“

© Karl Müller, Universität Salzburg

BEILAGE:

Berthold Viertel: DER NICHT MEHR DEUTSCH SPRICHT

Deutsch zu sprechen hast du dir verboten Wie du sagst: aus Zorn und tiefer Scham. Doch wie sprichst du nun zu deinen Toten, Deren keiner mit herüberkam?

Zu Genossen, die für dich gelitten, Denn statt deiner wurden sie gefaßt.
Wie willst du sie um Verzeihung bitten, Wenn du ihren Wortschatz nicht mehr hast?

Jene Ruchlosen wird es nicht schrecken, Wenn du mit der Muttersprache brichst, Ihre Pläne weiter auszuhecken, Ob du auch das reinste Englisch sprichst.

Wie das Kind, das mit der Mutter greinte, Und, indem es nicht zu Abend aß,
Sich zu rächen, sie zu strafen meinte: Solch ein kindisch armer Trotz ist das.

(In: Berthold Viertel: Der Lebenslauf. Gedichte. New York: Aurora Verlag 1946/ Berlin: Aufbau Verlag 1947)

Erich Kästner: Über das Verbrennen von Büchern.

... Das blutige Rot der Scheiterhaufen ist immergrün. Einen dieser Scheiterhaufen haben wir, mit bloßem Auge, brennen sehen. Das war auf den Tag genau vor einem Vierteljahrhundert, und deswegen haben wir uns heute versammelt.

Es gibt Andachtsübungen, und wie es Andachtsübungen gibt, sollte es, nicht weniger ernsthaft und folgenschwer, Gedächtnis-Übungen geben. Meine Damen und Herren, wir sind zu einer Gedächtnis-Übung zusammengekommen. [...] eine Gedenkstunde soll eine Gedächtnisübung sein, und noch etwas mehr. Was hülfe es, wenn sie nur der Erinnerung an arge Zeiten diente,nicht aber der Erinnerung an unser eigenes Verhalten? Das heißt, hier und jetzt, für mich nicht mehr und nicht weniger: an mein Verhalten? Ich bin nur ein Beispiel neben anderen Beispielen. Doch da ich mich etwas besser als andere kenne, muß in meiner Rede nun ein wenig von mir die Rede sein.
[...]

Ich hatte angesichts des Scheiterhaufens nicht aufgeschrien. Ich hatte nicht mit der Faust gedroht. Ich hatte sie nur in der Tasche geballt. Warum erzähle ich das? Warum mische ich mich unter die Bekenner? Weil, immer wenn von der Vergangenheit gesprochen wird, auch von der Zukunft die Rede ist. Weil keiner unter uns und überhaupt niemand die Mutfrage beantworten kann, bevor die Zumutung an ihn herantritt. Keiner weiß, ob er aus dem Stoffe gemacht ist, aus dem der entscheidende Augenblick Helden formt. Kein Volk und keine Elite darf die Hände in den Schoß legen und darauf hoffen, daß im Ernstfall, im ernstesten Falle, genügend Helden zur Stelle sein werden.

Und auch wenn sie sich zu Worte und zur Tat meldeten, die Einzelhelden zu Tausenden - sie kämen zu spät. Im modernen undemokratischen Staat wird der Held zum Anachronismus. Der Held ohne Mikrophone und ohne Zeitungsecho wird zum tragischen Hanswurst. Seine menschliche Größe, so unbezweifelbar sie sein mag, hat keine politischen Folgen. Er wird zum Märtyrer. Er stirbt offiziell an Lungenentzündung. Er wird zur namenlosen Todesanzeige.

Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird.
Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr.
Das ist der Schluß, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluß meiner Rede. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben. Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders, nicht des Heroismus. Als Ovidsein »Principiis obsta!« niederschrieb, als er ausrief: »Bekämpfe den Beginn!«, dachte er an freundlichere Gegenstände. Und auch als er fortfuhr: »Sero medicina paratur!«, also etwa »Später helfen keine Salben!«, dachte er nicht an Politik und Diktatur. Trotzdem gilt seine Mahnung in jedem und auch in unserem Falle. Trotzdem gilt sie auch hier und heute.

Trotzdem gilt sie immer und überall.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(In: E. K.: Gesammelte Schriften. Band 5, S. 571f. Ansprache Kästners auf der PEN-Tagung
in Hamburg am 10. Mai 1958.)

Ilse Aichinger: AUFRUF ZUM MISSTRAUEN

[Ilse Aichingers Essay kann man als geistige Grundlage einer neuen, kritischen Literatur nach 1945 verstehen, gewissermaßen als die „Gründungsurkunde“ der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Die Zeitschrift „Plan“, von Otto Basil, einem Exilanten, unmittelbar nachKriegsende wiederbegründet (!), war der Wiederaufrichtung eines geistigen Österreichertums von europäischem Zuschnitt und weltbürgerlicher Fülle6 verpflichtet.]
Ein Druckfehler? Lassen Ihre Augen schon nach? Nein! Sie haben ganz richtig gelesen — obwohl Sie diese Überschrift unverantwortlich finden, obwohl — — Sie finden keine Worte. Ist es nicht gerade die schwerste und unheilbarste Krankheit dieser tastenden, verwundeten, von Wehen geschüttelten Welt? Ist es nicht die Sprengladung, welche die Brücken zwischen den Völkern in die Luft wirft, dieses furchtbare Mißtrauen, ist es nicht die grausame Hand, welche die Güter der Welt ins Meer streut, die den Blick der Menschheit überschattet und lauernd verwirrt? Ist es notwendig, diese Ursache aller Qualen neuerlich zu rufen und aus ihrer Höhle zu locken? Haben wir nicht lange genug aneinander vorbeigeschaut, haben geflüstert anstatt zu sprechen, sind geschlichen anstatt zu gehen? Sind wir nicht lange genug, von Furcht gelähmt, einander ausgewichen? Und wo sind wir heute? Bespötteln wir nicht jede Instanz über uns, jede Behörde, jede Maßnahme, die wir ja nicht ergriffen, jedes Wort, das wir nicht gesagt haben? Wir sind erfüllt von Mißtrauen gegen Gott, gegen den Schleichhändler, bei dem wir kaufen, gegen die Zukunft, gegen die Atomforschung und gegen das wachsende Gras. Und nun? Nein, es ist kein Irrtum, hier steht es klar und deutlich:

Aufruf zum Mißtrauen! Aufruf zur Vergiftung also? Aufruf zum Untergang?

Beruhigen Sie sich, armer, bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! Weinen Sie nicht! Sie sollen ja nur geimpft werden. Sie sollen ein Serum bekommen, damit Sie das nächste Mal um so widerstandsfähiger sind! Sie sollen im kleinsten Maß die Krankheit an sich erfahren, damit sie sich im größten nicht wiederhole. Verstehen Sie richtig. An sich sollen Sie die Krankheit erfahren! Sie sollen nicht Ihrem Bruder mißtrauen, nicht Amerika, nicht Rußland und nicht Gott. Sich selbst müssen Sie misstrauen! Ja? Haben Sie richtig verstanden? Uns selbst müssen wir mißtrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir mißtrauen! Schwingt nicht schon wieder Lüge darin? Unserer eigenen Stimme! Ist sie nicht gläsern vor  Lieblosigkeit? Unserer eigene Liebe! Ist sie nicht angefault von Selbstsucht? Unserer  eigenen Ehre! Ist sie nicht brüchig vor Hochmut?

Sagten Sie nicht. Sie hätten lieber im vorigen Jahrhundert gelebt? Es war ein sehr elegantes und vernünftiges Jahrhundert. Jeder, der einen vollen Magen und ein weißes Hemd hatte, traute sich selbst. Man pries seine Vernunft, seine Güte, seine Menschlichkeit. Und man bot tausend Sicherungen auf, um sich gegen die Schmutzigen, Zerrissenen und Verhungerten zu schützen. Aber keiner sicherte sich gegen sich selbst. So wuchs die Bestie unbewacht und unbeobachtet durch die Generationen. Wir haben sie erfahren! Wir haben sie erlitten, um uns, an uns und vielleicht auch in uns! Und sind doch schon wieder bereit, selbstsicher und überlegen zu werden, zu liebäugeln mit unseren Tugenden! Kaum haben wir gelernt, den Blick zu heben, haben wir auch schon wieder gelernt, zu verachten und zu verneinen. Kaum haben wir stammelnd versucht, wieder „ich" zu sagen, haben wir auch schon wieder versucht, es zu betonen. Kaum haben wir gewagt, wieder ,,du" zu sagen, haben wir es schon
mißbraucht! Und wir beruhigen uns wieder. Aber wir sollen uns nicht beruhigen!

Trauen wir dem Gott in allen, die uns begegnen, und mißtrauen wir der Schlange in unserem Herzen! Werden wir mißtrauisch gegen uns selbst, um vertrauenswürdiger zu sein! (In: Plan 1 (Juli 1946), 7. Heft, S. 588)

1 Wie kann man heute adäquat über den Nationalsozialismus sprechen? Die „Sprachzerstörung“, die durch die
Sprachverwendung der Nazis betrieben wurde, bedarf für den/die (Literatur‐ und Kultur)‐Historiker/in einen sensiblen und sprachbewussten Umgang mit der von ihm/ihr gebrauchten Beschreibungs‐, Analyse‐ und Interpretationssprache (Metasprache). Die Sprache der Nazis „lügt“. Viele Wörter wurden nämlich der Nazi‐Ideologie unterworfen und bekamen somit spezifische Bedeutungen, die sich in das Bewusstsein und die Verwendungsweisen der Menschen bis weit über das Jahr 1945 hinaus – bis heute! ‐ eingruben und – wenn unreflektiert gebraucht – bis heute fatale Bedeutungs‐Zusatzbedeutungen aufweisen, z. B. „Volk“, „Reinigung“, „Erlösung“, „Freiheit“ u.v.m. (vgl. Victor Klemperer: LTI ‐ Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen. Berlin: Aufbau‐Verlag 1947. Vgl. auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Sprache_des_Nationalsozialismus
(21.10.2013) mit weiterführender Literatur. Eines der bemerkenswertesten und schönsten Beispiele für die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache im Zeichen des Faschismus ist das Gedicht des österreichisch‐jüdischen Exilanten Berthold Viertel: Der nicht mehr Deutsch spricht (1946) – vgl. BEILAGE.
Unmittelbar nach 1945 gab es in Exilanten‐ und Intellektuellenkreisen eine heftige Debatte über die Frage, ob man in deutscher Sprache noch schreiben könne. „Fanatisch“ oder „Fanatismus“ etwa war ein Lieblingswort
Hitlers und vieler NS‐Ideologen und ‐Machthaber, die etwa ihre Ziele „fanatisch“, d. h. in deren Sprachgebrauch absolut rücksichtslos, durch‐ und umsetzen wollten. Der „Holocaust“ und die Identität Hitlers und Himmlers
waren Ausdruck dieses „Fanatismus“. Ernst Hanisch schreibt in seinem Aufsatz „Warum die Geschichte des Nationalsozialismus nicht vergeht. Reflexionen eines alten Historikers“ (Typskript ‐ vgl. auch: http://www.stadt‐
salzburg.at/internet/websites/nsprojekt/ns_projekt/home.htm): „Wir müssen diese [unsere] Sprache mit Vorsicht und Bedacht verwenden, auf Genauigkeit drängend, aber wir dürfen nicht kneifen, wenn wir nicht Geschichte
[auch Literatur‐ und Kulturgeschichte KaMü] als Wissenschaft aufgeben wollen.“

2 Vgl. dazu: Karl Müller: Die Vernichtung des „undeutschen“ Geistes. Theater und Literatur im Dienste des Nationalsozialismus. In: Sabine Veits‐Falk und Ernst Hanisch (Hg.): Herrschaft und Kultur. Instrumentalisierung – Anpassung – Resistenz, Salzburg 2013, S. 400–459. (= Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus, Hg. von
Peter F. Kramml, Sabine Veits‐Falk, Thomas Weidenholzer und Ernst Hanisch, Band 4. Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 37). Hier auch alle weiterführenden bibliographischen Angaben.

3 Alfred Kantorowicz, Richard Drews, Verboten und verbrannt. Deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt, Berlin, München 1947.

4 Akten der Deutschen Studentenschaft (Berlin). Hauptamt für Aufklärung und Werbung, nach: Sauder, S. 77–78. Im Archiv des Deutschen Studentenbundes wurden auch satirische Proteste gegen diese NS‐„Geistigkeit“ aufbewahrt, in denen u.a. in Anspielung auf die zwölf Thesen des Plakates der Deutschen Studentenschaft zwölf
andere Thesen formuliert wurden: I. Alle antisemitischen Studenten sind Arschlöcher! II. Arschlöcher gehören nicht in die Universität, sondern ins Scheißhaus! III. Antisemitische Studenten sind feige! Sie fürchten die
Concurrenz jüdischen Intellekts. IV. Antisemitische Studenten sind Fälscher! Sie schalten geistige Höchstleistungen aus, um recht bequem den ersten Platz zu erhalten. V. Die Juden waren bereits ein königliches Volk, als die Vorfahren der Antisemiten bestenfalls Warzenschweine im Teutoburger Morast waren. VI. Die Deutschen bestehen aus: Wenden, Slawen, Romanen, Kelten u.s.w. plus einer Riesenmenge Dreck! Von arisch oder germanisch ist nichts zu merken. VII. Als die Embryos der jetzigen Generation denen des Schweines noch
sehr ähnlich sahen, waren wir im Kriege. Da konnten wir feststellen, daß die Juden Galiziens und Rußlands die Bannerträger althochdeutscher Sprache sind. Wäre diese 1914er Embryo‐Generation menschlich entwickelt, dann wüßte sie das! So blieb es bei der Entwicklung zum Schwein. VIII. Das Ausland bekommt durch die Thesen des Plakates der Deutschen Studentenschaft bestimmt das richtige Bild vom geistigen Niveau heutiger deutscher Studenten. Nachher waren es wieder die Juden! IX. Es lebe die deutsche Gesinnung und Kampfesweise. X. Jeder anständige Mensch schämt sich, daß diese Art deutsch sein soll. XI. Wenn diese Art wirklich deutsch ist, dann will man kein Deutscher sein. XII. Das Ausland ist verständigt! (In: Sauder, S. 94‐95)

5 Vgl. Bernhard Iglhauser: Hut ab vor diesen Bekennern!“ Thalgau 1914–1945. Thalgau 2008 – Bernhard
Iglhauser: Thalgauer Schulchronik 1613‐2013. Thalgau 2013. Vgl. auch die exemplarisch genannten Bücher auf dem Mahnmal zur Thalgauer Bücherverbrennung in der Thalgauer Schul‐ und Gemeindebibliothek (2013).

6 Plan. Herausgeber, Verlag und Redaktion: Zum Wiederbeginn. In: Plan 1 (Okt. 1945), 1. Heft, S. 1.

Empfohlene Zitierweise:

Tomas FRIEDMANN, Albert LICHTBLAU, Karl MÜLLER, Erinnerung an die Salzburger Bücherverbrennung 1938 (Rede), Salzburg 2013, online unter: Initiative Freies Wort, https://www.initiative-freies-wort.at/veranstaltungen/veranstaltung-2013/ (Datum des letzten Zugriffs)

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